Theater 1986 am LMG


Peter Weiss

DER NEUE PROZESS

Stück in drei Akten

INHALT

Selbstzeugnisse Kafkas

Peter Weiß: Fluchtpunkt

Peter Weiß: Notizbücher

Überlegungen zu zwei deutschsprachigen Schriftstellern

Zeichnungen Kafkas

Rollen & Darsteller

S.E.K. - III

Zeugnis Kafkas

Konzernverflechtungen

Der Multifunktionär

Peter Weiß Notizbücher II

Mr. Bloom in Ulysses, James Joyce

Das kyrillische K

Attila József: Scheitern eines Dichters

Spleen

Quellennachweis


IMPRESSUM:

Layout........................

.............. J. Fleuchaus

Cover..........................

...........  C. Schmidt

V.i.S.d.P.....................

.......      J. Fleuchaus

Textbeiträge & Zusammenstellung

C. Schmidt, S. Kratz, Z. Budai


SELBSTZEUGNISSE FRANZ KAFKAS

"Die Besitzlose Arbeiterschaft"

Pflichten: Kein Geld, keine Kostbarkeiten besitzen oder an­nehmen. Nur folgender Besitz ist erlaubt: einfachstes Kleid (im Einzelnen festzusetzen), zur Arbeit Nötiges, Bücher, Lebens­mittel für den eigenen Gebrauch. Alles andere gehört den Armen. Nur durch Arbeit den Lebensunterhalt erwerben. Vor keiner Arbeit sich scheuen, zu welcher die Kräfte ohne Schädigung der Gesundheit hinreichen. Entweder selbst die Arbeit wählen, oder, falls dies nicht möglich, sich der Anordnung des Arbeits­rates fügen, welcher sich der Regierung unterstellt. Für keinen andern Lohn arbeiten als den Lebensunterhalt für zwei Tage. Mäßigstes Leben. Nur das unbedingt notwendige essen, zum Beispiel als Minimallöhnung, die in gewissem Sinn auch Maximallöhnung ist: Brot, Wasser, Datteln. Essen der Ärmsten, Lager der Ärmsten.

Das Verhältnis zum Arbeitgeber als Vertrauensverhältnis behandeln, niemals Vermittlung der Gerichte verlangen. Jede übernommene Arbeit zu Ende führen, unter allen Umständen.

Rechte: Maximalarbeitszeit sechs Stunden, für körperliche Arbeit vier bis fünf. Bei Krankheit und im unfähigen Alter Aufnahme in staatliche Altersheime, Krankenhäuser. Das Arbeitsleben als eine Angelegenheit des Gewissens und eine Angelegenheit des Glaubens an die Mitmenschen. Mitgebrachten Besitz dem Staat schenken, zur Errichtung von Krankenhäusern, Heimen. Vorläufig wenigstens Ausschluss von Selbstständigen, Verheirateten und Frauen.

Rat (schwere Pflicht) vermittelt bei der Regierung. Auch in kapitalistischen Betrieben, dort wo man helfen kann, in verlassenen Gegenden, Armenhäusern. Fünfhundert Männer Höchstgrenze. Ein Probejahr."

"An Fortschritt glauben heißt nicht glauben, dass ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben."

"Mit einem Gefängnis hätte er sich abgefunden. Als Gefangener enden - das wäre eines Lebens Ziel. Aber es war ein Gitterkäfig. Gleichgültig, herrisch, wie bei sich zu Hause strömte durch das Gitter aus und ein Lärm der Weit, der Gefangene war eigentlich frei, er konnte an allem teilnehmen, nichts entging ihm draußen, selbst verlassen hätte er den Käfig können, die Gitterstangen standen ja meterweise auseinander, nicht einmal gefangen war er."

"Er beweist nur sich selbst, sein einziger Beweis ist er selbst, alle Gegner besiegen ihn sofort, aber nicht dadurch, dass sie ihn widerlegen (er ist unwiderlegbar), sondern dadurch, dass sie sich beweisen."



Peter Weiss: "Fluchtpunkt"

"... Plötzlich war ich wach für die Eröffnungsworte des Prozesses. Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet. Dieses Buch las ich in der ersten Nacht in meinem neuen Zimmer. Alles was ich bisher gelesen hatte, trat in den Hintergrund. In allen Büchern, die mir ihre Welt gezeigt hatten, dass ich mich darin wiedererkenne, hatte es noch Rückzugsmöglichkeiten gegeben, in eine Mystik, oder in den Begriff einer Schönheit, in ein Idyll, oder in eine Liebesillusion. In allen Büchern wurden mir Vorbehalte und Ausflüchte deutlich, die es in Kafkas Bericht nicht mehr gab. Hier war alles Außenwerk abgeschält, und das Ich des Buches stand schutzlos und entkleidet da. Selbst wenn jedes Buch mir einen Reichtum von neuen Bildern schenkte, so lag das Wesentliche doch immer im Auftauchen der eigenen Gedanken, die durch die Konfrontation geweckt wurden. So begann ich jetzt, beim Lesen des Pro­zesses, hellhörig zu werden für den Prozess, der mich selbst gefangen hielt..."

"... Die Welt, in der ich mit Kafka im Zwiegespräch stand, erhielt den Todesstoß. Sie war noch nah, sie bestand noch, doch sie war wie eine Grabkammer, in der ich gegen Mauern anlief. Kafka hatte nie gewagt, die Urteilssprüche der Richter zu revidieren, er hatte die Übermacht verherrlicht und sich ständig vor ihr gedemütigt. Wenn er einmal auf dem Weg war, sie zu durchschauen, so sank er schon bald ins Knie, um Abbitte zu leisten. Er hatte in seinen Tagebüchern vermerkt, wie spielend leicht es sein müsste, eine Selbstbiographie zu schreiben, leicht wie die Niederschrift eines Traums. Und doch kam er nie dazu. In den Ansätzen zeigte sich gleich etwas Zwanghaftes, Niedergehaltenes. Nie hatte er sich von seinem Vater lossagen können, und auch von der Frau hatte er nie etwas anderes empfunden als seine Untauglichkeit. Er hatte sich blindgestarrt an der Mauer, an der verrammelten Tür, und hinterrücks hatte er sich ermorden lassen..."

"... Bei Kafka war alles von der Furcht vor Berührungen durchsetzt. Sein Schmerz lag im Gedanklichen, er schilderte den Kampf der Ideen, der widerstreitenden Empfindungen. Er befand sich auf einer Hoffnungslosen Suche nach der Nähe der anderen, er träumte von einer Gemeinschaft, einer Begnadigung, einer Versöhnung, und immer wieder hatte er das Unerreichbare, das Unmögliche vor sich..."


"Peter Weiss: "Notizbücher" I

"irgendwo sitzen Planer und rechnen mit dem vollkommenen manipulierbaren Menschen, dem Menschen, der genau so ist, wie sie sich vorstellen, dass er sein müsste.

Es war immer besser, genau zu wissen, wie die Dinge abgelaufen waren, die Ungewissheit war quälender als das Bild des grauenhaften Ablaufs

Kult mit den Phallus-Symbolen: die Raketen, die Robotbomben, die Abschussrampen, die erigierten Rohre -

dieses geblendete Land sollte in die Hände geduldiger, disziplinierter Organisatoren kommen

das Recht herausnehmen, über andere Menschen zu entscheiden"



Überlegungen zu zwei deutschsprachigen Schriftstellern: Franz Kafka und Peter Weiss

Gemeinsamkeiten, Verwandtschaft zwischen dem radikalen Dramatiker Peter Weiss und dem jüdischen prager Außenseiter der Jahrhundertwende Franz Kafka?

Oberflächlich gesehen lässt sich kaum ein Anhaltspunkt finden, doch was veranlasst dennoch Peter Weiss sich in seinen Werken ununterbrochen mit Kafkas Schaffen auseinanderzusetzen, Kafkas Werk zum Paradigma seines eigenen Lebens zu machen, sein letztes dramatisches Werk "Der neue Prozess" ausdrücklich Franz Kafka zu widmen?

Günter Anders schrieb 1946 über Franz Kafka: "Als Jude gehörte er nicht ganz zur christlichen Welt, als indifferenter Jude nicht ganz zu den Juden. Als Deutschsprechender nicht ganz zu den Tschechen. Als deutschsprechender Jude nicht ganz zu den böhmischen Deutschen. Als Arbeiterversicherungsbeamte nicht ganz zum Bürgertum. Als Bürgersohn nicht ganz zur Arbeiterschaft. Als Schriftsteller lebte er in der Familie fremder als ein Fremder..."

Frappierend Ähnliches lässt sich lesen in den autobiographischen Prosawerken "Abschied von den Eltern" und "Fluchtpunkt" von Peter Weiss: "Einen heimischen Boden hatte ich nie besessen." "Dass ich kein Deutscher und väterlicherseits von Jüdischer Herkunft war, erfuhr ich erst kurz vor der Auswanderung." "Ich war Arbeiter unter Arbeitern, doch ich gehörte nicht zu ihnen, ich war Sohn des Chefs."

"Ich lebte im Luftlosen zwischen Elternwelt und Arbeiterwelt." Und schließlich: "Im gleichen Zeichen der Fremdheit verliefen die Stunden des Beisammenseins in der Familie."

Diese Kompilation von Zitaten ergibt die Lösung der oben gestellten Fragen: Beiden Autoren ist die Erfahrung einer nationalen und sozialen Unzugehörigkeit gemeinsam, verbunden mit der Erfahrung der Undurchschaubarkeit, des den Monstrositäten dieser Welt Ausgeliefertseins.

So bleibt bei dem jungen Weiss wie bei Kafka der Protest gegen die sie umgebende kapitalistische Wirklichkeit im Allgemein-Menschlichen stecken ohne sozialkritische Relevanz. Doch mit Peter Weiss' Hinwendung zum Marxismus in den sechziger Jahren, mit der Entscheidung "Kafka gegen den Strich zu lesen" erfolgt eine Distanzierung von Kafka, die in der Neubearbeitung der Romandramatisierung "Der neue Prozess" einen Abschluss findet. Weiss vollzieht durch die Überwindung Kafkascher Ohnmacht die Hinwendung zu einer Welt absoluter Freiheit, in der alles greifbar oder möglich ist: "Kein Beckett-Ende, keine Ausweglosigkeit. Nur schwere Erfahrungen, aber eben doch das Bewusstsein, dass es auf uns ankommt, die Lage zu verändern.

Trotz der Schwere - ein Optimismus." So ist "Der neue Prozess" eine einzige Absage an das Irratio­nale, das Mystische der kafkaschen Welt, an das kleinbürgerliche Ich des Josef K., das glaubt in die Normen einer bürgerlichen, kapitalistischen ohne Ausbruchmöglichkeit gezwängt zu sein.

Es ist ein Aufruf an das Volk an seine geschichtsbildende Kraft zu glauben, sich zur Wehr zu setzen gegen die verlogene kapitalistisch-hierarchische Gesellschaft. Kafkas Sympathie für die Schwachen, seine. Ohnmacht gegenüber der Macht wird so von Weiss umgearbeitet zu einer Überwindung der Passivität zugunsten politischer Aktionen.

Wie aktuell das 1982 uraufgeführte Stück rezipiert wurde, verdeutlicht eine schwedische Theaterkritik in ihrer Überschrift: "Die USA sind der Schurke in Peter Weiss neuen Drama!


ZEICHNUNGEN KAFKAS

ZEICHNUNGEN KAFKAS




Peter Weiss

DER NEUE PROZESS

Stück in drei Akten

Personen und Darsteller:

Josef K

Zoltan Budai

Fräulein Bürstner

Stephanie Kratz

Fräulein Montag

Swantje van Hettinga Voß

Frau Grubach

Anne Blankenberg

Leni

Marion Winter

Der Hauptmann

Stephan Ruser

Der Staatsanwalt

Jörg Ebel

Der Direktor

Jochen Fleuchaus

Rabensteiner

Christopher Schmidt

Kaminer

Christian Schleicher

Franz

Marc Petermann

Die Frau

Sabine Sievers

Zwei Kinder

Carsten Eich

Markus Zatrieb

Der Maler Titorelli

Marc Petermann

Der General

Ralf Krüger

Der amerikanische Botschafter

Wilfried Gerwinn

Stab:

Beleuchtung                                                        

Jörg Ebel

Toncollage                                                          

Jörg Ebel

Maske                                                                    

Susanne Schwan

Requisite                                                            

Antonius Klees

Plakat

Christopher Schmidt

REGIE

HORST RIEMENSCHNEIDER




S.E.K.III

S.E.K.III existiert seit 1983 und ist aus einzelnen Mitgliedern der Theater-AG des Lise-Meitner-Gymnasiums, die sich nach dem Abitur zu einer neuen Gruppe formiert haben, hervorgegangen. Die gemeinsame Spielerfahrung beträgt 5 Jahre. Nachdem wir im Rahmen der Theater-Ag die Stücke "Romulus der Große", "Der Hofmeister", "Figaro lässt sich scheiden" und "Figaros Hochzeit" inszeniert haben, sind wir im letzten Jahr mit der "Trilogie des Wiedersehens" von Botho Strauß an die breitere Öffentlichkeit getreten und stellen nun die Produktion des Stückes "Der neue Prozess" von Peter Weiss vor. Bei der Suche nach einem geeigneten Theaterstück haben wir uns für dieses Stück entschieden, weil seine Problematik eine große Aktualität besitzt: Unterdrückung des Einzelnen durch die Mechanismen eines Großkonzerns und das Scheitern einer gesellschaftlichen Utopie an den materialistischen Werten der Gegenwart. Peter Weiss zeigt in seinem Stück auf, wie eine bestimmte Machtstruktur das Zusammenleben der Menschen gleichschaltet, er setzt Kafkas Bild des ohnmächtigen Menschen um in sein Bild der momentanen politischen Verhältnisse. "Der neue Prozess" spiegelt Peter Weiss ideologische Auseinandersetzung, die er in seinem Werk "Ästhetik des Widerstands" beschreibt, in einem kleineren Rahmen wieder. Die Probenarbeit hat uns gezeigt, dass in Jedem von uns eine unterschwellige Unterdrückermentalität vorhanden ist, die wir oft leugnen. Dieses Eingeständnis und dessen spielerische Umsetzung bedeuten die besondere Herausforderung bei diese" Stück.


Zeugnis





Constantin Freiherr Heeremann von Zuydtwyck

Die Posten des CDU-Bundestagsabgeordneten Constantin Freiherr Heeremann von Zuydtwyck

- Präsident des Deutschen Bauernverbandes

- Präsident des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbandes

- Präsident des Weltbauernverbandes IFAP und des Landesjagdverbandes

- Mitglied des Präsidiums der Deutschen Reiterlichen Vereinigung

- Vorsitzender des Verwaltungsrates der Landwirtschaftlichen Rentenbank

- Vorsitzender des Aufsichtsrates der Raiffeisen-Warengenossenschaft Riesenbeck

- Vorsitzender des Vorstandes der westfälischen Reit- und Fahrschule Münster

- Vorsitzender des Verwaltungsrates des Absatzfonds

- Vorsitzender im Genossenschaftsrat Westfälische Zentralgenossenschaft

- Stellvertretender Vorsitzender im Aufsichtsrat Deutsches Milchkontor Hamburg

- Mitglied des Aufsichtsrates ZMP (Zentrale Markt- und Preisberichterstattung)

- Mitglied des Aufsichtsrates der Centralen Marketing Gesellschaft (CMA)

- Mitglied des Aufsichtsrates der Deutschen Nordsee, Bremerhaven

- Mitglied des Aufsichtsrates der Bayer AG Leverkusen

- Mitglied des Aufsichtsrates Klöckner-Humboldt-Deutz

- Mitglied des Aufsichtsrates der Deutschen Genossenschaftsbank, Frankfurt

- Mitglied des Aufsichtsrates der Handels­ und Privatbank Köln

- Mitglied des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau

- Mitglied des Postverwaltungsrates

- Generallandschaftsrat der westfälischen Landschaft, Münster



Peter Weiss: Notizbücher 197I-1980

Buch 29

28.12.73-15.3.74

...

5/2 Gespräch mit Ingmar Bergmann. Seine Anregung: Kafkas Prozess zu dramatisieren.

Liege zu Bett. Grippe, lese das Buch wieder (zum wievielten Mal?) - gleich starke Eindrücke. Dramatisierung vielleicht möglich als -Zwischenarbeit -

Kafka gegen den Strich lesen

K geb. 3.Juli 1883

Beginnt Prozess zu schreiben im Aug. 1914 ( bei Kriegsausbruch);

Die beschriebene Zeitdauer des Prozesses: 3»Juli 1913 -3.Juli 1914

Grete Bloch, die Freundin Felices -

Er hat mit Grete Bloch ein Kind, 1915 geb. (Sohn), starb im Alter von 7 Jahren -

Oktober 14 große Arbeitsschwierigkeiten -Untertänigkeit, Verzweiflung, Selbstverachtung -

Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt —

Tagebücher ab Mai 1913 -

Ich bin ein unfähiger, unwissender Mensch -

Er setzt sich für Schutzvorrichtungen ein. Natürlich zum Besten der Arbeiter. Aber je besser sie funktionieren, desto größer das Geschäft der Firma -

Wenn ein Unglück passiert, wird nicht der Arbeiter beklagt, sondern der Verlust der Firma -

Die Firma findet immer Finten, um die Versicherung nicht auszuzahlen -

'Schloss' und wenn es bei ihm irgendein Weiterkommen gibt, so führt es nur zum Kleinbürgertum, weiter reicht das Streben nicht, als sich anzupassen -

Die allgemeine Gesetzlosigkeit in der Welt –

Such keinen Sinn in seinen Plagen. Er kommt einfach mit dem Leben nicht zurecht. Er hätte sich seinen Vater mal vorknöpfen müssen. Ich kann mir denken, was das für einer ist -

Kein, um Gott geht es ganz bestimmt nicht. Höchstens um eine Art Dichtung -

Seine Liebe ist zu groß. Er ist ihr nicht gewachsen.

Sie würde alles verzehren. Da flieht er, in panischer Angst. Bliebe er doch. Setze er sich doch seiner furchtbaren Liebe aus —

Der Prozess ist dazu da, dass man gegen ihn aufsteht -

8/2

...

August 13 Coitus als Strafe für das Glück des Zusammenseins (Tagebuch)

...

K ist aus seiner Klasse herausgeraten, er weiß nicht richtig, wie, er ist etwas anarchistisch angehaucht, weiter aber kommt er nicht.

...

Ich wurde gar nicht festgenommen, bei der anarchistischen Versammlung. Nicht einmal das! Wärst du doch einmal so weit gegangen!

Er will sich anpassen, sieht aber die ganze Scheinheiligkeit, Lüge, Korruption - und doch nicht genug - Dom: Nein, ich kann es nicht, ich bin zu schwach.

Du musst!

Buch 30

I5-3.74-5.7.74

Wir versichern die Arbeiter gegen Unfälle, die Prämien aber werden von den Arbeitgebern bezahlt -

Das, was im Buch als subjektive Welt dargestellt ist, wird auf der Bühne, durch die Praxis der Sichtbarmachung, naturgemäß objektiv. Der Einzelmensch, in dessen Innern die Halluzinationen und Ängste stattfinden, steht hier leiblich vor uns, was wir bei der Lektüre von ihm eingeflüstert bekommen, muss hier ins Handgreifliche übertragen werden. Wir nehmen nicht mehr Traumelemente auf, sondern konfrontieren uns mit Landlungen. Er führt einen Beruf aus, er bewohnt ein Zimmer in einer Pension, er bewegt sich zwischen lebendigen Menschen, wird von diesen gesehen und beurteilt: so wie er sich innen zeigt, gleichgültig, was für Visionen ihn gerade heimsuchen -

Das Werk selbst, als Gedankenkomplex, stellt sich außerhalb jeder historisch umreißbaren Zeit. Beim Lesen wird dies als etwas Gültiges akzeptiert. Beim Versuch, aus etwas Erdachtem etwas Sichtbares zu machen, also Traum in Wirklichkeit zu übersetzen, entstehen sofort bestimmte Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber der Zeitdimension. Außer der deutlich werdenden Beziehung zw. der Zeit des Zusehens und der Zeit, in der sich das geschaute Ereignis abspielt, gibt es die Möglichkeit, den Inhalt in das Verhältnis zu einer bestimmten historischen Periode zu setzen.

Beim Lesen ist die Empfindung der Gegenwärtigkeit vorherrschend. Beim Aufnehmen von etwas Vorgespieltem ist ein Abstand zu verspüren: hier wird etwas Typisches, Wichtiges, etwas an sich Vergangenes, des Interesses wegen Wiederbelebtes, demonstriert —

Demjenigen, der dies alles erlebt hat, machte es viel zu schaffen -

K ist den Arbeitern aber gesellschaftlich überlegen. Er will sie verachten, sie sind Niedere für ihn, von denen er sich abheben kann -

Erst zum Schluss zeigt er sich auch ihnen gegenüber weit unterlegen -

24/3 Gebe, nach eineinhalb Monaten, die Arbeit am Prozess auf. Scheint unmöglich, eine total subjektive Welt in eine konkrete und objektive Realität zu transportieren. Der Prozess ist eine hermetische Geschichte, die sich in kein andres Verhältnis versetzen lässt als das vom Subjekt gegebne. Der Prozess wird von einer einzigen Person erlebt, alles, jede Figur, jedes Geschehnis, jede Veränderung, ist drinnen, in einer geschlossenen Person. Der Versuch, äußere Bilder und Kontinuität herzustellen, kann nur glätten, banalisieren, das Zerbrechliche und Komplizierte im Wesen dieses Prozesses zerstören.

Hatte Gides Version des Prozesses gelesen: auch hier zeigt es sich, wie wahnwitzig die Bemühung ist, dieses innere Ideedrama, diesen unerhörten Traum auf die Bühnenbretter zu stellen. Dargestellt werden Auslassungen einer verkümmerten, der Mittelmäßigkeit angepassten Phantasie.

Sage B ab, sende das Bestellungshonorar ans Dramatische Theater zurück. Im gleichen Augenblick drängt sich mir der Stoff wieder auf.

Schreibe jetzt frei, ohne Auftraggeber, kümmere mich nicht um die Erwartungen eines anderen.

Gebe mich mit dem Thema auf eigne Verantwortung ab.

Richtig, den dramatischen Verlauf in einen bestimmten Zeiträumen zu verlegen: vom 3. Juli 19I3 - 5.Juli 19I4. Ks Vision wird in einen Zusammenhang gestellt mit einer bestimmten historischen Epoche. Gegen das Irrationale, Mystische gerichtet.

Im Roman befindet sich K in keiner messbaren Zeit, weil er sich nur in den Regionen der Gedankenassoziationen bewegt, die frei stehen, außerhalb des Überprüfbaren - jetzt muss eine Logik eingeführt werden, die gesetzmäßig ist, in der jeder vollzogne Schritt auf Vorhergegan­genem basiert —

...


Mr. Bloom in "Ulysses", James Joyce

"...  Es ist schwer, im Hinblick auf Hecht und Unrecht feste und gültige Regeln aufzustellen, doch Raum zur Besserung ist gewisslich überall vorhanden, auch wenn jedes Land, wie man sagt, unser eigenes, unglückseli­ges inbegriffen, die Regierung hat, die es verdient. Aber bei ein bisschen gutem Willen überall. Es mag ja sehr schön sein, sich beiderseits seiner Überlegenheit zu rühmen, doch wie steht es mit der beiderseitigen Gleichheit? Ich missbillige Gewalt oder Intoleranz in jeder Gestalt oder Form. Mit ihnen wird niemals etwas erreicht oder aufgehalten. Eine Revolution muss kommen, so sicher wie eine fällige Rentenzahlung. Es ist, wenn man es so betrachtet, eine offenkundige Absurdität  Leute nur deswegen zu hassen, weil sie um die Ecke wohnen und eine andere Muttersprache haben, sozusagen ...“



DAS KYRILISCHE K

Die ersten Sonnenstrahlen durchstießen das Glas der gardinenlosen Fenster und fielen auf sein schlafendes Gesicht. Sie verführten seine Augen zum Blinzeln. Mit einem leichten Seufzer drehte er sich zur Wand, weg von dem grellen Licht. Bin sanftes Lächeln legte sich auf seine Lippen, ja fast schon ein schelmisches Grinsen. Gedanken an Schönheit durchfluteten sein Gehirn. Schönheit der Kunst, der Liebe, Schönheit der Musik - bei diesem Gedanken setzte er mit einem Knopfdruck den Tonarm des Plattenspielers in Bewegung, der seinem. Befehl gehorchte und sich auf die Schallplatte senkte. Sie lag noch auf dem Plattenteller, von gestern Abend. Er hatte sie aufgelegt, als er schon lange im Bett gelegen hatte, wach, unfähig einzuschlafen. Tschaikowskys Symphonie Nr.6,h-moll,"Pathetique". Er dachte, sie würde ihn auf andere Gedanken bringen, ihn, wenn auch nur ein bisschen, aus seiner monotonen und einsamen Realität entführen. Aber weit gefehlt. Sie verstärkte alles nur, ließ die Bilder seines misslungenen Tages wie in Zeitlupe in seinem Innern herumschleichen, als ob sie es darauf anlegte,ihn noch stärker zu quälen, noch sadistischer zu foltern, ihn noch schneller an den Abgrund der Depression und des Wahnsinns zu jagen und ihn hinterrücks, mit stahlblau leuchtenden Augen und mit einem grässlich schepperndem, gegackertem Lachen, skrupellos in die Tiefe zu stoßen.

Er hatte gestern einen langen, anstrengenden Tag. Als er die Tür seiner Wohnung hinter sich endlich ins Schloss fallen hörte, hatte er das Gefühl, dass es ihm unmöglich wäre, selbst die paar Schritte zu seinem Bett zu gehen. Doch als er vor dem Bett stand, während er zögerte, entglitten ihm fast unmerklich seine Tasche und seine Einkaufstüte aus den Händen, so dass die Äpfel und Dosen, als wollten sie ihn in seiner Lächerlichkeit noch provozieren, begannen, lustig, welch eine idiotische Ironie des Schicksals, über den gesamten Fußboden zu hüpfen und zu tanzen - er ließ sich, ohne ein Kleidungsstück auszuziehen, wie ein gefällter Baum auf das ungemachte Bett fallen. Er blieb eine lange Zeit reglos liegen. Die Leere, die er verspürte, in seinem Kopf, in seiner Seele, ließ ihn sich noch ausgemergelter fühlen. "Biese Leere. Mein Gott, diese Leere!" begann er unverständlich murmelnd zu sich selbst zu sagen, "Diese Leere bringt mich noch einmal zur Verzweiflung, treibt mich noch einmal in den Wahnsinn. Warum immer diese Leere? Sie macht mir Angst. Ja, ich fürchte mich vor ihr. Ich fürchte mich davor, dass in einem unüberlegten Augenblick, ich von alleine, kraftlos und schwach geworden, vom Rand des Abgrundes, felsig und von einem eiskalten Wind umweht, in die Tiefe springe, hinab in diese grauenvolle und ewige Dunkelheit..."

Er hob vorsichtig seinen Kopf und wälzte dann seinen Körper zum Hand des Bettes, mit den Bewegungen eines hundertjährigen Greises, und verweilte dort sitzend, seine Ellbogen auf die Knie gestützt und sein Gesicht in den Händen begraben. Langsam, ganz langsam, gewann er seine Fähigkeit zu klaren Denken zurück. Er ließ den Kopf zwischen seinen beiden Händen hindurchgleiten. Dabei streifte er durch sein Haar und hielt, als seine Hände auf seinem Kacken lagen, in seiner Bewegung inne. Er drückte ihn ein paar Mal mit einem massierenden Griff, um ihn ein wenig zu entspannen.

"Was für ein wunderbarer, wunderschöner Tag. Einfach fantastisch!", sagte er in einem ironischen, fast zynischen Ton zu sich selbst, während er tief ein- und ausatmend aufstand und sich sogleich bückte, sich dann ganz hinkniete und so auf auf dem Boden hin- und herrobbte, um die ver­streuten Äpfel und Dosen wieder aufzusammeln, die vorher aus seiner Einkaufstüte gerollt waren. Als er wieder alles zurück in die Tüte gestopft hatte, erhob er sich von seinen Knien, ging, mit der Tüte auf dem linken Arm, in die Küche, die gleich an dieses Zimmer anschloss, öffnete mit seiner Hechten die Kühlschranktür, drückte mit dem rechten Bein dagegen, damit sie nicht zufiel, nahm die Dosen einzeln und der Reihe nach aus der Tüte, stellte sie, ohne irgendeine bestimmte Ordnung, hinein, gab dann der Kühlschranktür mit seinem rechten Fuß einen gehörigen Tritt, so dass sie laut klirrend zuknallte, und schleuderte schließlich die Tüte samt Äpfeln auf den Spülschrank.

Da er weder Appetit noch Hunger verspürte, ging er zurück in das Zimmer, hob seine Tasche mit einer blitzschnellen, eigenartig verrenkten Bewegung vom Boden aufstellte sie neben den alten Kleiderschrank und zog sich aus. In einer Art Vorfreude auf die wohltuende Erfrisch­ung und Entspannung, die er nun von einem ausgiebigen Duschen erwartete, lief er geradezu ins Badezimmer und wäre dabei fast noch über eine Dose gestürzt, die er vorher übersehen hatte. Er stellte sie schnell auf den Kühlschrank und verschwand ins Badezimmer, in die Duschkabine. Über eine halbe Stunde ließ er das warme Nass auf sich niederprasseln, und als er den Wasserstrahl endlich abdrehte, fühlte er seine Hände und Füße ganz durchweicht. Er schob die Duschkabinentür beiseite, stieg prustend mit zwei Schritten aus der Kabine heraus und begann sich mit dem Handtuch, das er vorher mit gestrecktem Arm, noch halb in der Kabine, vom Haken genommen hatte, trocken zu rubbeln. Danach ging er, nackt und ein bisschen frierend, noch einmal in die Küche, schüttete die Äpfel aus der Tüte, nahm den schönsten in die Hand, wusch ihn über der Spüle und rannte zum Bett. Er legte sich schnell hinein. Nachdem er das Kissen ganz hochgelegt hatte, lehnte er sich dagegen, halb liegend, halb sitzend, zog die Decke bis unter seine Achselhöhlen, und biss schließlich, da ihm alles bequem genug schien, in den Apfel.

Den Apfel hatte er schon längst wieder vergessen, als er mit offenen Augen im Bett lag - es musste schon eine Ewigkeit sein, dachte er - und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen an die Decke starrte. Die Sonne war zwar verschwunden, aber noch keine völlige Dunkelheit eingetreten. Er setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Seine rechte Hand griff nach seiner Jacke, die immer noch neben dem Bett auf dem Boden lag, wohin er sie beim Ausziehen geworfen hatte, auch die restlichen Kleidungsstücke bildeten immer noch einen wüsten Haufen. Er hielt die Jacke mit seiner linken Hand hoch, während er mit der rechten die Taschen durchsuchte. In der linken Innentasche fand er endlich, was er suchte: seine Zigaretten und sein Feuerzeug. Die Jacke flog in einem Bogen wieder auf den Haufen. Sein Zeigefinger und Daumen entnahmen der Schachtel eine Zigarette und führten sie zum Mund. Mit dem Feuerzeug in seiner linken Hand zündete er sie schnell an. Während seine Hände wieder zurück auf die Decke sanken, pumpte er seine Lungen mit dem süßlichen Rauch voll und atmete laut hörbar wieder aus. Er nahm den Aschenbecher, der den Schallplattenspielerdeckel verzierte, und legte ihn in seinen Schoß. Seine Augen begannen langsam und behäbig, durch das Zimmer zu wandern. Er betrachtete das eigenartige Spiel des verschwindenden Lichtes. Es schien alles mit einem Schleier bedeckt zu sein, alle Farben schienen ausgebleicht, nur noch Grautöne waren zu sehen. Plötzlich sprang er aus dem Bett, hockte sich vor den Stapel Schallplatten hin, die neben dem Plattenspieler an der Wand lehnten, blätterte sie hastig durch und zog eine heraus, als er sie endlich gefunden hatte. Tschaikowsky musste ihm wieder einmal helfen, eine Brücke bauen zu anderen Dingen, anderen Räumen, er musste wieder einmal Fluchthelfer spielen. Noch bevor der Tonarm auf der Schallplatte aufsetzte, war er bereits im Bett, halb unter der Decke, der Oberkörper frei, an die Wand gelehnt. Er saugte noch einmal an seiner Zigarette. Dann begann der Geist seines Lieblingskomponisten durch das Medium der Musik, den Raum zu füllen.

Schon die ersten Töne verursachten eine Gänsehaut, wühlten sein Innerstes auf»vertrieben die innere Ruhe und Gelassenheit in weite Ferne. Da waren sie wieder. Die Bilder. Die Bilder des zu Ende gehenden Tages begannen, vor seinen Augen zu spielen. Ohne Gegenwehr ließ er sie gewähren, ließ sich forttreiben von der Musik und seinen Gedanken. Sie ergriffen Besitz von ihm, krallten sich in seinem Kopf und in seiner Seele fest, wie ein Schwärm Geier in einem halb verwesten Kadaver, als wollten sie ihn niemals mehr loslassen. Er ließ es mit sich geschehen. Er wollte alles durchleben. Keine Gegenwehr, wie sonst, was den Schmerz zwar betäubt, aber nur für kurze Zeit. Und dann wieder aufwacht und verheerender ist, als ein Wirbelsturm. Er rang sich dazu durch, seinen Schmerz nicht zu unterdrücken, sondern ihn auszukosten, zu genießen. Dies schien ihm diesmal die einzige Möglichkeit, diesen Feind zu überlisten. Wie ihn der Alltag anödete. Dieser von anderen aufgestellte Plan, nach dem er sich zu richten hatte. Morgens um 7:30 Uhr aufstehen, kurz vor 9:00 Uhr im Geschäft sein, um 18.30 Uhr Feierabend. Jeden Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Immer der gleiche Ablauf, der gleiche Rhythmus. Keine Abwechslung um 9-00 Uhr das Gehirn abschalten, damit man den Tag einigermaßen übersteht. Um 18.30 Uhr dann den Schalter wieder umlegen. Leider - oder vielleicht diesmal gar zum Glück? - steht man das dann gelegentlich doch nicht durch. Wenn man sich bewusst ist, dass man nur eine Ziffer in der Belegschaftskartei ist, ein Niemand, und man immer wieder darauf aufmerksam gemacht wird, und trotzdem noch dazu lächelt, dessen bewusst, dass man unterdrückt und ausgenutzt wird, trotzdem sich nicht wehrt, alles mit sich geschehen lässt, dann, ist es bereits zu spät.

Wenn man sich hat umformen lassen zu einer jederzeit ersetzbaren Schraube in der großen Maschinerie, genannt Gesellschaft, sich ihren ab­surden Normen und Wertvorstellungen absolut unterworfen hat, nur noch sie das Leben bestimmen, das Mit- und überwiegend das Gegeneinander. Wenn man nur noch in seiner Freizeit wirklich ein Individuum ist, das eigene selbst, wenn man sich nur noch nach Feierabend zu sich selbst bekennt, zu den eigenen positiven und negativen Eigenschaften, auch zu den eigenen Fehlern, dann ist sogar jedweder Sinn in der Hoffnung ausgemerzt. Morituri te salutant. Aber wir haben uns doch selbst dem Tode geweiht, waren der möglichen Nachteile wegen, zu feige, zu unserem Standpunkt und letztendlich zu uns selbst zu stehen. Die Erkenntnis führt durchaus nicht immer zum Abgrund, hier irrte Thomas Mann. Man darf nur nicht resignieren, darf sich nicht zurückziehen ins eigene Schneckenhaus, darf nicht flüchten in die selbstgemalten und zurechtgestutzten Traumwelten und sich abschotten, die Realität aussperren. Man muss sich ihr vielmehr stellen, mit ihr kämpfen, ihr jeden Tag die innere Kraft entgegen werfen. Wir müssen die Realität beherrschen und gestalten, nicht sie uns...

Nachdem er diese Gedanken immer weiter gesponnen hatte und schließlich ganz erschöpft, geistig, nicht körperlich, die hatte er mit dem Duschen ausgetrieben, noch immer an der Wand lehnte, während er hastig die mittler­weile sechste Zigarette an zündete, vermeinte er, einen innerlichen "Knacks" zu spüren. Er fühlte sich befreit und eigenartig leicht, als ob er vorher in einem kalten, stickigen Keller, eingesperrt gewesen wäre und jetzt, nach langer Zeit, zum ersten Mal draußen an der frischen Luft Spazieren gehen durfte.

"Das Leben, das Leben..."murmelte er, und ein lautes Lachen entrann seiner Kehle. Er beschloss, morgen, übermorgen, für die kleine Ewigkeit eines Menschenlebens, alles nur noch zu genießen - ob positives oder negatives - und immer er selbst zu sein und für sich einzustehen. Er nahm sich des Weiteren vor, morgen, gleich nach dem Aufwachen, einen Brief zu schreiben. Er drückte die Zigarette, die erst halb abgebrannt war, im Aschenbecher aus, legte sich ganz hin und schlief fast sofort ein...

Mit einem kurzen Schwung schlug er die Decke zurück, setzte sich an den Rand des Bettes, machte sich eine Zigarette an, atmete einmal tief durch und stand auf. Er ging hinüber zum Schreibtisch, auf dem die Schreibmaschine stand, setzte sich auf den Stuhl, spannte einen Bogen Papier ein und begann zu schreiben:

Sehr geehrte Frau E.,

Hiermit teile ich Ihnen mit, dass ich

zum ... kündige...

(von Zoltan Budai)


ATTILA JÓZSEF: Scheitern eines Dichters

Attila József, geb. 11.4.1905 in Budapest und gest.3.12.1937, gilt in Ungarn als ein typischer Vertreter der Boheme. Er war sein Leben lang auf der Suche nach Erfüllung, Anerkennung und Liebe - schlechthin auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Da er nur enttäuschende Erfahrungen machte, alles und jeder ihm nur Schmerzen und Qualen bereitete, sah er, nach mehreren Nervenzusammenbrüchen, den einzigen Ausweg im Tod. Nach einigen misslungenen Selbstmordversuchen, warf er sich am Abend des 3. Dezember 1937 vor einen Zug. Mit den folgenden Texten soll seine Person etwas veranschaulicht werden.

"Dieser Stoff bin ich und diese Kraft. Jedoch, der Stoff wird mehr werden, die Energie aber, unter dem Einfluss von entgegen gesetzten Kräften, weniger, und der Mensch wird still ermüden. Der Tisch im Cafe ist kalt, nachgiebig? also legt er seine Stirn dorthin und denkt daran, wie schön auf der Turmspitze eine nackte Frau wäre, mit ausgebreiteten Armen und einer großen roten Hose mitten unter ihrem Busen, und sie schreibt es nur ihrem Freund, der sie von Weitem beschützt. Danach schmerzt ihm der Kopf, danach macht er nur blödsinniges, dummes und wahnsinniges. Am Ende schreibt er wieder ein Gedicht. Und er bemüht sich, alles so zu lieben, wie es ist. Somit wird er vor den anderen langsam der "nette, stille Junge", den man jedoch nicht einzuladen braucht, weil er den ganzen Abend still sein wird, und wenn er etwas sagt, dann außergewöhnliche Dinge..." (aus einem Brief von 1926)

"So verstehe ich deine, dem Tod ergebenen Ansichten nicht. Ich wenigstens, ergebe mich ihm nur deswegen nicht, weil ich nicht an ihn glauben kann, in keiner Weise. Weil ich mir alles vorstellen kann, zu Ende träumen und durchleben, nur eines nicht, dass ich tot bin..." (aus einem Brief von 1928)

"Das Leben des Menschen ist kein Scherz. Egal, was man von mir denkt, ob ich glücklich, ob ich unglücklich gelebt habe, das, gewollt oder ungewollt, muss ich auf mich nehmen. Ich muss mich vors Publikum stellen - wie sollte ein Lyriker sonst seinen Platz halten? Ich muss jedoch hinzufügen, dass ich große Zweifel habe, ob ich überhaupt ein guter Dichter war..."  (aus einem Brief von 1937)

"Sehr geehrter Herr Doktor! Ich grüße Sie mit großer Zuneigung. Sie haben das Unmögliche vergeblich in Versuchung geführt."

(Sein letzter Brief geschrieben am Tag seines Suizids, am 3.12.1937)


SPLEEN

Tod, lege dein Gewand über mich, glaube mich frierts,
ein böser Sturm braust, wütet und tobt in mir,
das Sehnsuchts-Schakalrudel heult zum Himmel hinauf
und am traurigen Abend werd' ich bis zur Haut durchnässt

Schlammig kalter Grund zieht, saugt ein meine Füße,
mein Mut ist zusammengefahren und entschwunden,
und wenn meine heisere Kehle noch ein bitteres Lied röchelt,
glaube nicht, dass ein Lebensgesang auf meinen Lippen klingt

Oh, weil all meine Glieder blau sind und zittern,
meine Augen trüb, irre mich in Plätzen und Wegen,
und ich friere - sieh, du Tod, dein Stiefsohn ruft nach dir

Er liebte es, sich in deinen Mantel zu hüllen,
er wüsste eh nicht fröhlich zu flattern,
der arme, seine Seele friert und vor dem Leben erschrickt er

(1922)

Frei übertragen, aus dem Ungarischen ins Deutsche von Z. Budai)


QUELLENNACHWEIS:

- Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa
aus dem Nachlass, Frankfurt a.M.,3.Fischer,1953

- Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes; Novellen, Skizzen, Aphorismen
aus dem Nachlass, Frankfurt a.M. , S.Fischer, 1954

- Peter Weiß, Fluchtpunkt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.,1962 -

Peter Weiß, Notizbücher 1971-80, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.,1980

- Franz Kafka, Tagebücher 1910-23,Frankfurt a.M.,S.Fischer,1973

- Klaus Wagenbach, Franz Kafka-Bilder aus seinem Leben,Berlin,1983

- Industriemagazin 3/1986,München,1986

- Stern-Magazin,20/1986,Gruner&Jahr,Hamburg,1986

- James Joyce, Ulysses, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.,1975

- Attila József, Müvei II (Tanulmányok, cikkek, levelek), Budapest,
Szépirodalmi Könyvkiadó, 1977

- Attila József, Müvei I (Versek, müforditások, széppróza), Budapest,
Szépirodalmi Könyvkiadó, 1977

Auch in den späteren Manuskripten Kafkas, im Tagebuch, in den Oktavheften und auf Postkarten, tauchen immer wieder kleine Karikaturen oder Illustrationen auf. Noch 1921 trifft Janouch ihn im Büro der Anstalt beim Zeichnen:"...eine alte, tief veranlagte Leidenschaft..."


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